Zu zweit allein

Nachdem der Babybus abgefahren ist schnappe ich mir den Hund und mache einen ausgedehnten Spaziergang und höre dabei Podcast. https://cre.fm/cre220-sprechendes-denken danach geht es mir schon viel besser. Ich entscheide mich, den Süden der Insel noch ein wenig zu erkunden, und fahre nach Ragusa. Ragusa liegt am Hang, und ich gehe zunächst eine Stunde lang in die „falsche“ Richtung, und gehe an langen, schnurgeraden Straßen entlang bis ich bemerke, dass der historische Stadtkern in der entgegengesetzten Richtung liegt. Also spazieren der Hund und ich eine Stunde zurück und dann nochmal gut zwei Stunden durch besagten Stadtkern, der sehr hübsch anzuschauen ist. Im Stadtgarten teilen wir uns eine Pizza aus der Auslage, dann gehen wir wieder zum Auto und fahren, um den grimmigen Temperaturen bei Nacht zu entgehen, nach Süden an die Küste, Ragusa Marina. Dort finde ich einen traumhaften Parkplatz direkt am Meer, ruhig, LTE Empfang, Trinkwasser und kalte Dusche vorhanden. Zwei Tage bleibe ich hier, und unternehme lange Spaziergänge am Meer, einmal rechts und einmal links entlang. Ich bemerke, dass mir menschliche Kontakte fehlen, und nutze die Gelegenheit, mich bei Leuten aus meiner Schulklasse in Weißenhorn zu melden. Ich fahre weiter nach Modica, nachdem mir geraten wurde, mir die Stadt anzuschauen. Rumo und ich beschreiten den empfohlenen touristischen Rundweg, dessen Höhepunkt im Wort- und übertagenen Sinn mich mit einer tollen Aussicht über das verschachtelt gebaute Städtchen verschafft. Eine Familie aus England, die zeitgleich den Ausblick genießt, bemerkt zu meinem Amusement die Ähnlichkeit des Hundes zu Chewbacca. In der Dämmerung fahre ich weiter Richtung Westen, wo ein Naturreservat liegt, das ich mir anschauen möchte. Die Stellplatzapp empfiehlt mir einen Parkplatz an einer verlassenen Kirche in einem auch sonst zu 90 Prozent verlassenen Ort. Ich habe das Gefühl, mich an einem Drehort für einen Zombie-Apokalypsenfilm zu befinden. Die Planung der Wanderung durch das Reservat gestaltet sich schwierig, es gibt zwar angeblich mehrere Rundwege, aber weder im Netz noch vor Ort finden sich Hinweise auf deren genaue Lage. Ich wähle einen zufälligen Ort, einen Brunnen, als Navigationsziel aus und werde sehr positiv überrascht: Durch die postapokalyptische Szenerie hindurch wandere ich in eine für mich noch nie gesehene karg bewaldete, sandige Landschaft, die regelmäßig abzubrennen scheint. Der Brunnen, der mir als Wegmarke dient, ist ein magisch wirkender Ort. Er liegt in einem kleinen Graben von vielleicht 20 Metern Breite und 10 Metern Tiefe, der so dicht von Bäumen umsäumt ist, dass es trotz Sonnenschein fast dunkel ist, gefühlt liegt die Temperatur 5 Grad unter der von Außen. Ich finde doch Schilder, die den Verlauf des Naturpfads anzeigen, und staune über die seltenen Korkeichen, die in dieser geschützten Umgebung gedeihen. Von einem Hügel aus sehe ich drei riesige Parabolantennen in wenigen Kilometern Entfernung. Eine kurze Internetrecherche ergibt, dass das amerikanische Militär trotz des Widerstands der Bevölkerung und des Bauverbots im Naturschutzgebiet hier eine von 5 Sendeanlagen errichtet hat, die gemeinsam ein weltumspannendes, breitbandiges Kommunikationsnetz bilden, das zum Beispiel für den Betrieb von Drohnen notwendig ist. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Mobile_User_Objective_System Diese Entdeckung verstärkt in mir das Gefühl von dystopischer Romantik noch erheblich. Weiter geht meine Reise, einige Stunden Autofahrt bringen mich nach Messina, wo ich mit der Fähre zurück aufs Festland gefahren werde. Mein Plan sieht vor, die nächsten Tage zu nutzen, um an der östlichen Küste entlang nach Norden zu fahren. Es ist schon eher spät am Abend, als ich einen Küstenabschnitt finde, an dem ich das Gefühl habe, nicht sofort ausgeraubt zu werden, sobald ich anhalte. Ein schmaler Weg am Strand macht mir den Eindruck, mich an einen ruhigen Ort zu bringen, an dem ich mich ausschlafen kann. Plötzlich merke ich, dass ich von einer Asphaltpiste auf einer Sandpiste gelandet bin, und halte Ausschau nach einer guten Stelle, um zu wenden. Ich versuche es an einer Einfahrt zu einem Ferienhaus, wo der Sand festgefahren wirkt: Sofort graben sich die Hinterräder ein. Es ist dunkel, und weit und breit kein Mensch. Der Geruch meines Angstschweißes wird vom verdampfenden Gummi kaschiert, nach drei Versuchen schaffe ich es, die Räder mit den bloßen Händen freizugraben und das Auto durch koordiniertes kommenlassen der Kupplung aus den Mulden zu schaukeln. Zur Feier des Tages koche ich mir Artischocken mit Vinaigrette und vernichte eine schöne Flasche Vino Frizzante, die ich beim Gemüsehändler erstanden hatte. Am nächsten Morgen fahre ich, auf Empfehlung von Tante Gudrun (vielen Dank für diesen Tip!!) in ein verlassenes Dorf Namens Pentedatillo. Ich schlendere durch die Ruinen, und schaue mir die liebevoll restaurierten Häuschen an, klettere ein wenig in den Felsen herum und beschließe, noch einen Tag zu bleiben. Am nächsten Morgen setze ich mir eine markanten Felsblock auf dem benachbarten Bergkamm als Ziel, und der Hund und ich wandern durch ärmliche Dörfer und an zerfallenden Höfen vorbei dorthin, die Landschaft ist einzigartig und wunderschön. Auf dem Rückweg kommen wir an einer aus Beton gebauten „Burg“ vorbei, der Garten ist akkurat gepflegt und mit allerlei verspielten Elementen verziert, unter anderem mit einem Wegweiser, der Richtung Wolfsburg in 2200 km Entfernung weißt. Sie sind einfach überall, die Almans. Auch treffe ich einen älteren Herrn, der in einer sehr witzigen Mischung aus italienischem Akzent und norddeutschem Schnack von seinen diversen Eisdielen berichtet, die er betreibt oder betrieben hat, von bekifften und besoffenen Serviceangestellten, davon, dass er manchmal mit seiner Eismaschine redet, und dass er, obwohl längst im Rentenalter, nicht aufhören will, weil es ihm einfach Spaß macht. Super Typ. Außerdem begegne ich einer jungen Frau aus dem Ruhrgebiet, deren gesamter Besitz in einer Holztruhe in ihrem Nissan Micra lagert. Sie baut mit einem Rumänischen Globetrotter und einer Ortsansässigen Frau einen Ziegenstall. Weil Inas Rückkehr bald bevorsteht, bewege ich mich zügig weiter Richtung Bari, wo sie mit dem Zug ankommen soll. Ich fahre ein paar Stunden, bis ich müde werde. Ich halte an einem Supermarkt, wo mir ein junger Mann, der aus Indien stammt, von der kärglichen Situation auf dem Arbeitsmarkt berichtet, während er mein Gemüse einpackt. Das lasse ich, Dank Verblödung durch stundenlanges Autofahren, an der Kasse liegen und fahre zwei Kilometer weiter auf einen Parkplatz neben einer WWF- Auffangstation für Meeresschildkröten. Dort bemerke ich das Versäumnis. Beherzt schnappe ich mir eines unserer Fahrräder, um festzustellen, dass die Reifen platt sind. Also Hecktür auf, Pumpe raus, Reifen aufpumpen, Pumpe rein, Hecktüre per Knöpfchen von innen verschlossen, Türe zugeworfen, dann Hitze und Kälte am ganzen Körper gleichzeitig: Den Schlüssel hatte ich in der Hand gehabt beim pumpen, und mitsamt der Pumpe in den Stauraum geworfen. Ich spüre kaltes kribbeln in allen Gliedmaßen, und rufe Ina an. Sie beruhigt mich, und sagt mir, ich muss mir Hilfe suchen. Nachdem ich oft genug Scheisse geschrien habe, und alle Türen dreimal überprüft habe, steige ich aufs Rad. Nach 10 Metern treffe ich ein älteres Paar, die zum Glück zumindest einige Worte Englisch sprechen. Ich kann ihnen mein Problem erklären, und innerhalb einer Minute bildet sich eine Traube aus ca 10 Menschen, die ihre Smartphones zücken und ihre jeweils bekannten Automechaniker anrufen. Der Mann, den ich ursprünglich angesprochen habe, erreicht seinen Kontakt, und zurück bleiben 4 Menschen, das älter Paar, ein Freund von ihnen und eine junge Frau, die in der WWF-Station arbeitet. Ich darf dort im Büro warten, bis der Mechaniker eintrifft. Der erscheint kurz darauf in einer C-Klasse, hat ein Zange, Draht und drei mit einer Handpumpe aufblasbare Luftsäcke dabei. Er klemmt die Luftsäcke in die Spalten in der Fahrertür, weitet sie durch aufpumpen, und hantiert ca 20 Minuten mit dem Draht, bis er schließlich den Türöffner zu fassen bekommt und die Türe aufspringt. Jubel bricht aus, Fotos werden geschossen. Der Mechaniker zündet sich eine Zigarette an und steigt wortlos in seinen Wagen, ich halte ihn zurück, um ihm zumindest 20 Euro für seinen samstagabendlichen Einsatz geben zu können. Ich werde ihm für immer dankbar sein. Jetzt steige ich, nachdem ich mich bei allen anwesenden mehrfach bedankt habe, auf das Fahrrad und hole mein Gemüse. Man erinnert sich noch an mich, mein Gemüse wird mir gereicht. Am nächsten Tag wandere ich mit dem Hund erst nach links, dann nach rechts am Meer entlang. Wir übernachten noch einmal hier, dann fahre ich nach Bari. Hier parke ich, weil viele NutzerInnen der Stellplatz-App vor Einbrüchen gewarnt haben, auf einem bewachten Parkplatz, der sonst nur von LKW frequentiert wird. Der Parkwächter spendiert mir einen Kaffee, ich mache den Abwasch und den Ofen an und will zu Fuß aufbrechen, um Ina vom Bahnhof abzuholen. Nach kaum 50 Metern hält neben mir ein Van, ein Kollege vom Stellplatz besteht darauf, mich zum Bahnhof zu fahren. Dort wartet er mit mir 20 Minuten, bis Ina ankommt, und fährt uns dann zurück. Kostenlos. Bei 10€ Parkgebühren pro 24h. unglaublich. Und endlich sind wir wieder zusammen!

Ein Kommentar zu “Zu zweit allein

  1. Hallo Felix und hallo Ina, es ist immer wieder spannend, euren Erlebnissen – wenn auch aus „sicherer Ferne“ – zu folgen. Ciao und tanti auguri von Tante Gudrun weiterhin!

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